Die rohstoffarme Bundesrepublik Deutschland ist Exportweltmeister. Seit ich darüber nachdenken kann habe ich mich gefragt wie das gehen kann. Meine Lehrer haben mir immer wieder gesagt: Das liegt an unserer guten Ausbildung und an den Ingenieuren, am Mittelstand, der unglaublich innovativ ist und so gute Teile herstellt, Maschinen baut und Anlagen aufstellen kann, wie sonst keiner weltweit. „Made in Germany“ ist eine Marke, die weltweit begehrt ist. Deutsche Produkte sind spitze, „unkaputtbar“, sie sind geldwerte Konsumgüter und wertvolle Investitionsgüter. Unser Rohstoff ist euer Gehirn, haben meine Lehrer gesagt, unisono.
Die Zeiten ändern sich, so ändert sich auch der weltweite Bedarf für Konsum- und Investitionsgüter. Wenn es stimmt (wovon ich mittlerweile überzeugt bin), dass die Digitalisierung die vierte industrielle Revolution ist, dann wandelt sich gerade alles, weil alles virtuell wird. Daten sind das neue Öl, Software ist der neue Maschinenbau. Wenn der 3D-Druck sich weiterentwickelt, und das wird er, werden Logistiker umdenken müssen, es werden keine Waren mehr transportiert, maximal noch Rohstoffe für den Druck vor Ort. Die Programme dafür sind die eigentliche Wertschöpfung, die Materialisierung des Produkts wird anderen überlassen und ist beliebig vergebbar. Es ist schon ausreichend diskutiert worden, was dies zum Beispiel für die Automobilbranche und die Zuliefererindustrie bedeuten wird, ganz abgesehen davon, dass mit E-Motoren der Bau von Verbrennungsmotoren unwichtig und viel zu teuer wird. Es ist völlig logisch, dass die Entwicklung genau in diese Richtung gehen wird und auch die Mobilität immer mehr durch IT bestimmt wird.
Ist irgendeine relevante Richtungskorrektur auf diesen Bedarf in unserem Ausbildungssystem wahrnehmbar? Das würde bedingen, dass erstens der Bund/die Bundespolitik eine Richtungskorrektur für notwendig erachtet (das reicht aber nicht) und zweitens, dass der Bund/die Bundespolitik beim Thema Bildung etwas zu sagen hat. Bei ersterem bin ich mir sehr unsicher, beim zweiten Punkt kann ich sagen: Das ist nicht der Fall! Stattdessen sehen wir im Bildungssystem eine durch den Föderalismus bedingte Kleinstaaterei in Deutschland, die Wartung, Pflege und vor allem zielgerichtete Weiterentwicklung des Ausbildungssystems fast unmöglich macht.
Und dabei meine ich noch nicht einmal die kaputte Infrastruktur unserer Schulen, wo sich der Bund durch den Bildungsföderalismus nicht finanziell in die Schulpolitik überforderter Kommunen einmischen darf. An dieser Stelle weise ich sehr gerne auf das beispielhafte Privatprojekt von Thomas Tursics hin, der als Vater und Betroffener in Eigeninitiative und mühevoller Datensammlung (mit Bitten und Betteln bei Kommunen um Herausgabe von Daten, die eigentlich Open Data sind) die Website „Wie kaputt ist Ihre Schule“ [1] erstellt hat, die den Sanierungsbedarf Berliner Schulen zeigt. Wenn diese und andere Daten wirklich „Open“ wären, wären auch Einblicke in und Gestaltungsimpulse für mehr Bereiche des täglichen Lebens möglich (siehe meine These 4, Datenplattform).
Nein, ich meine die Förderung unserer Kinder für die kommende Lebens- und Berufsrealität, die absehbar durch digitale Realitäten bestimmt sein wird, in der wir aber auch dadurch punkten können, unsere jetzt schon guten Produkte der realen Welt noch besser zu machen, damit sie noch begehrter sind. Dazu müssten die Absolventenzahlen der MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) -Studiengänge steigen, sie tun aber das Gegenteil. Die MINT-Lücke steigt weiter an, die Bundesagentur für Arbeit schreibt dazu[2]: „Der sogenannte MINT-Report des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) für das Frühjahr hat ergeben: Im April (Anm.: April 2017) konnten 237.500 Arbeitsplätze im MINT-Bereich nicht besetzt werden. Das ist der höchste Stand an offenen Stellen seitdem ersten MINT-Report 2011.“ und es sind 38,6% mehr als im Vorjahr[3]. Wenn nicht ausländische Arbeitnehmer überproportional in MINT-Berufen arbeiten würden, wäre der Mangel noch viel größer. An der Spitze der Hochbegehrten: IT-Experten (fast 40%), wen wundert es? Die Geburtenrate in Deutschland fällt seit den 60er Jahren ab, doch in diesem Fall müssen sich zusätzlich vor vier bis sechs Jahren Heerscharen von jungen Leuten nach dem Abitur für nichttechnische Studiengänge entschieden haben. Warum macht man denn sowas, wie kann das passieren im Hochtechnologieland Deutschland?
Die Antwort darauf ist vielleicht, dass die Auswahl an Studiengängen mittlerweile fast unüberschaubar ist, die Schule das Thema des Wandels der Gesellschaft gar nicht diskutiert und sich dem annimmt, die Lehrer selbst kaum mehr in der Lage sind ihren Schülern zu einer Ausrichtung zu raten und die Eltern auch nicht mehr Up-to-Date sind. Außerdem: Mathematik, Informatik, Physik, Ingenieurwesen, überall ist jede Menge Mathematik drin, das ist ja anstrengend. Leichter erscheint da Betriebswirtschaftslehre, das macht irgendwie ja auch jeder, oder International Management, oder International Marketing, … . Was macht man mit solchen Abschlüssen? Damit lassen sich Stabsfunktionen in Unternehmen, vorzugsweise in großen, internationalen, börsennotierten Unternehmen finden. Dort bewerben sich fast alle dann auch, denn die Namen kennt man ja aus der Werbung, es ist ja auch anstrengend selbst zu recherchieren ob es noch andere Firmen gibt. Man konkurriert dann aber mit den Absolventen, die zu den besten ihres Jahrgangs gehören (die bewerben sich leider auch oft dort) und muss sich noch altmodischen Assessment-Centern stellen (das weiß ich sicher aus dem Bekanntenkreis, obwohl ich dachte das gibt es gar nicht mehr). Dann sind die Erfolgsaussichten natürlich gering.
Es gibt einfach zu viele BWL’er, „International Manager“ etc.. Aber es gibt zu wenig MINT-Absolventen. Die würden Jobs finden ohne durch Assessment-Marathons zu müssen, und zwar solche Jobs, die direkt an der Wertschöpfung beteiligt sind und tolle Karriereperspektiven bieten, obendrein noch gut bezahlt und krisensicher sind. Stabsstellen werden schnell mal eingespart, wenn sie aber direkt an der Wertschöpfungskette arbeiten, dann sinkt das Risiko und sie haben Ruhe.
Stattdessen laufen aber alle dem Mainstream (Standardstudiengänge, bekannte Firmen) hinterher. Es gibt gerade in Deutschland unglaublich viele Hidden Champions mit einer großen Vielfalt an hochqualifizierten Jobs und großem Bedarf an Menschen, die etwas „reißen“ wollen und engagiert zur Sache gehen. In einem Großkonzern sollte man besser nichts reißen wollen, das „System“ in solchen historisch gewachsenen Konzernen wird Kreativität, eigene Ideen und mutige Versuche in der Regel nicht tolerieren, da ist angepasstes Verhalten angesagt, es herrscht Konsenskultur, die in Meeting-Marathons maximal Durchschnitt erzeugt.
Wenn wir die Jugend wieder für Hochtechnologie begeistern wollen, dann müssen wir früh bei dem einzigen Potential ansetzen, dass Deutschland hat: Den Gehirnen unserer Kinder. Man muss ihnen vom Kindergarten und der Schule an die Freude an Kreativität, am Experimentieren, an sich ergebenden Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigen. In der Schule gehört auch Informatik in die Standardausbildung, nicht als Wahlfach, sondern als Pflichtfach (Ist in Bayern übrigens seit 2003 so, dank Monika Hohlmeier, damals zuständig, hatte genug Mut und Weitsicht), es muss über Digitalisierung diskutiert werden. Politiker fordern schon lange eine moderne Bildungspolitik, aber sie tun nichts! Jetzt macht doch mal!
Ach ja, wir sind ja föderal organisiert, geht ja nicht, die Bundespolitik kann nichts tun. Aber der Bildungsföderalismus wäre ja vielleicht sogar eine Chance für Deutschland, wenn wenigstens ein Bundesland seine Schulpolitik auf den zukünftigen Bedarf und die vierte industrielle Revolution ausrichten würde. Es müssten ja noch nicht mal alle Bundesländer umschwenken, einer reicht schon. Wenn das gut läuft folgen die anderen.
Mutige Politiker wären dazu natürlich schon notwendig. Na, wer traut sich?
[1] http://schulsanierung.tursics.de/
[2] https://www.iwkoeln.de/fileadmin/publikationen/2017/339805/Gutachten_MINT_Fruehjahrsreport__2017.pdf
[3] www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/BildungForschungKultur/Hochschulen/StudierendeHochschulenEndg2110410167004.pdf?__blob=publicationFile , Seite 36-37
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