Zuerst erschienen in der public Ausgabe 03-2021
von Dmitry Estrin und Michael Gürster
Ein Baukasten für bessere und effizientere Gruppenkommunikation
Moderne Kommunikation bringt immer auch neue Herausforderungen mit sich. Um die persönliche wie virtuelle Zusammenarbeit innerhalb einer Gruppe erfolgreich zu gestalten, ist ein methodisches Vorgehen erforderlich. Ein zentraler Punkt dabei ist das Einbeziehen der einzelnen Teilnehmenden in die Lösungsfindung. Liberating Structures sind eine Sammlung von Methoden zur Verbesserung der Teamkommunikation. Dieser Artikel zeigt an praktischen Beispielen, wie Liberating Structures im Projektalltag vor Ort und virtuell erfolgreich eingesetzt werden können.
Meetings mit Ermüdungsfaktor
Eine Situation, die Ihnen sicher bekannt vorkommt: Sie sitzen in einer Besprechung (neuerdings wahrscheinlich online) und der Besprechungsleiter arbeitet sich durch eine unendlich erscheinende Anzahl von Präsentationsfolien. Seit gefühlten Stunden spricht er über das aktuelle Thema. Es ist nicht Ihre erste Besprechung an diesem Tag, und schon nach wenigen Minuten ergreift Sie ein Gefühl der Müdigkeit. Oder vielleicht haben Sie auch noch (wie wir alle) viele andere Themen im Kopf, beispielsweise die aktuellen Herausforderungen in Ihrem Projekt oder die Frage, wie Sie Ihre privaten Termine diese Woche am besten mit Ihrem beruflichen Alltag in Einklang bringen können. Die Folge: Schon bald folgen Sie dem Erzählten nicht mehr genau und bekommen nur noch am Rande mit, was Ihnen berichtet wird. Dabei nehmen Sie ja (hoffentlich) aus einem guten Grund an diesem Termin teil: Die vermittelten Inhalte sind für Ihre Arbeit relevant. Wenn Sie also nicht zuhören, nehmen Sie die nötigen Informationen zu den besprochenen Themen nicht auf – der Termin verfehlt sein gewünschtes Ergebnis.
Mangelnde Beteiligung und einbeziehen der Teilnehmenden
Womöglich sitzen Sie auch in einen Termin, in dem sich der Besprechungsleiter eine Rückmeldung der Anwesenden wünscht. Vielleicht präsentiert er nicht nur unumstößliche Fakten, sondern auch seine eigene Sicht auf ein Thema oder Annahmen zur Situation. Von den Besprechungsteilnehmerinnen und -teilnehmern erwartet er, dass sie seine Sicht bestätigen oder ihr widersprechen. Oder er erhofft sich wichtige Ergänzungen zu einzelnen Aspekten seines Vortrags. Hört das Publikum dann nicht aufmerksam zu, bleibt das erwünschte Feedback durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit aus.
Der Vortragende ist sich dieser Tatsache allerdings nicht immer bewusst, geht er doch in der Regel davon aus, dass seine Zuhörerinnen und Zuhörer ihm aufmerksam folgen. Doch selbst wenn alle Anwesenden tatsächlich konzentriert zuhören, besteht bei Vorträgen häufig das Problem, dass nicht alle ihre Gedanken auch aktiv äußern. Meist beteiligt sich nur eine kleine Gruppe an der Diskussion. Sie äußern Bedenken, machen Vorschläge oder stellen Fragen, während die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Meinungen und Ideen für sich behalten. Das zeigt: Vorträge als Veranstaltungsformat haben eine strukturelle Schwäche, denn sie sind nicht auf bidirektionale Kommunikation ausgelegt. Der Vortragende steuert den Verlauf „seiner“ Veranstaltung und kann sein Publikum mit einbeziehen – letztlich entscheidet er aber selbst, ob und in welchem Ausmaß er dies tut.
Um Feedback von Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu bekommen, sind daher andere Formate deutlich besser geeignet. In moderierten Diskussionen oder Brainstorming-Runden beispielsweise werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer direkt aufgefordert, ihre Gedanken zu einem Thema zu teilen. Doch auch hier bestehen ähnliche Probleme, wenn es darum geht, das Wissen der gesamten Gruppe einzubeziehen. Nicht alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Veranstaltung finden das Gehör der Gruppe. Zu kurz kommen meist die weniger extrovertierten Gruppenmitglieder, die sich scheuen, vor der ganzen Gruppe zu sprechen, oder die schlichtweg nicht zu Wort kommen, weil die anderen Anwesenden „lauter“ sind als sie.
Vorhang auf für Liberating Structures
Die oben angeführten Probleme mit traditionellen Besprechungsformaten waren es, die Keith McCandless und Henri Lipmanowicz dazu bewegten, Liberating Structures zu veröffentlichen: einen Baukasten von Methoden, mit denen die Zusammenarbeit in Gruppen verbessert werden kann. Die von den beiden Autoren gesammelten Methoden wurden der Allgemeinheit als Open Source zur Verfügung gestellt. Diese Methoden sollen die Teilnehmenden einer Gruppe von einschränkenden, kontrollierenden Strukturen, wie sie in traditionellen Besprechungsformaten bestehen, „befreien“ (daher der Name). Die Kontrolle über eine Besprechung liegt bei Liberating Structures nicht bei einer einzelnen Person (der vortragenden oder moderierenden Person), sondern ist gleichmäßig auf alle Gruppenmitglieder verteilt. Alle Personen können zu gleichen Teilen am Ergebnis einer Besprechung oder eines Workshops teilhaben. Gleichzeitig bieten die Methoden einen strukturierenden Rahmen, der im Gegensatz zu unstrukturierten Formaten wie Brainstorming einen geordneten, zielgerichteten Ablauf der Termine ermöglicht. Jede Methode hat einen festen Ablauf und beschreibt, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in diesen Ablauf so eingebunden werden, dass sie zum Ziel des Termins beitragen. Einzelne Schritte sind häufig strikt zeitlich begrenzt („timeboxed“), um effizienter zu arbeiten und eine Fokussierung auf die wesentlichen Ergebnisse zu fördern.
Gemeinsam erarbeitete Ergebnisse
Eines haben alle Methoden gemeinsam: Sie beziehen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Workshops aktiv mit ein. Dies gilt für die Gestaltung des Termins und seiner Ergebnisse. Allerdings müssen sie nicht (manchmal mühsam) dafür sorgen, dass sie zu Wort kommen – das „erledigen“ die Methoden für sie, indem sie durch ihren Aufbau die gleichberechtigte Einbindung Einzelner gewährleisten. Häufig werden die Gedanken der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zunächst einzeln, dann in immer größer werdenden Gruppen eingesammelt und miteinander verknüpft, sodass am Ende ein Ergebnis steht, das durch alle Gruppenmitglieder erarbeitet wurde.
Liberating Structures vermeiden durch das aktive Einbeziehen der Gruppenmitglieder Ermüdungserscheinungen. Sie unterstützen das Feedback zu Herausforderungen und Fragestellungen und sorgen dafür, dass alle Gruppenmitglieder Gehör finden. Durch den strukturierten Ablauf der Methoden wird das Wissen aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer „angezapft“. Durch das Einbinden aller Personen in die Lösungsfindung werden bessere Ergebnisse erreicht, die auch leichter von der gesamten Gruppe mitgetragen werden.
Zusammenarbeit mit Spaßfaktor
Ein nicht zu unterschätzender Pluspunkt der Methoden ist, dass sie schlichtweg Spaß machen. Bereits bei unserer ersten Teilnahme an einem Liberating Structures Workshop haben wir live erfahren: Die Methoden sind kurzweilig, abwechslungsreich und „einfach mal etwas anderes“. Einige von ihnen unterstützen kreatives Denken und bieten bewusst Raum für den spielerischen Austausch der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Infolgedessen sind sie mit Leidenschaft und Eifer dabei und erzielen dadurch bessere Ergebnisse.
Liberating Structures im Projektalltag
Anhand von Beispielen aus unserem Projektalltag beschreiben wir einige ausgewählte Methoden im Detail.
Beispiel 1: Reduzierung des Meeting-Aufkommens mit TRIZ
Die Situation
In einem Team mit 14 Mitgliedern gab es ein sehr hohes, als belastend empfundenes Aufkommen an Meetings. Die Teammitglieder klagten in Retrospektiven und Workshops darüber, dass sie gefühlt 80 Prozent ihrer Arbeitszeit in Meetings verbrächten, deren Nutzen jedoch sehr gering ausfalle. Die vielen Meetings hielten das Team von seiner eigentlichen Arbeit ab. Fokussierte Arbeit an einem Thema war nur schwer möglich, häufige Kontextwechsel zwischen verschiedenen Themen an der Tagesordnung. Die Situation wurde noch dadurch verschlimmert, dass vor allem die Fachleute stark in die Meetings eingebunden waren und somit weder für Entwicklungsarbeit noch für die Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung standen. Die Folge war eine frustrierende Situation für das gesamte Team sowie zahlreiche Überstunden, um die Arbeitslast neben den vielen Terminen zu bewältigen. Nachdem die Teammitglieder das Problem erkannt hatten, wurden mehrere Meetings durchgeführt, um das Problem zu diskutieren, in deren Verlauf sich die Mitglieder allerdings nicht für konkrete Schritte zur Verbesserung der Situation entscheiden konnten. Das Problem wurde von den meisten Teammitgliedern aus Resignation akzeptiert und es wurden keine weiteren Versuche zur Verbesserung der Lage unternommen.
Die Lösung
Nach einer Standortbestimmung sollte mit der Struktur „TRIZ“ (siehe Infobox) ein neuer Anlauf unternommen werden, um mit möglichst wenig Zeitaufwand erste Maßnahmen zur Verbesserung der „Meeting-Situation“ zu finden.
Der Ablauf des Workshops
In Phase 1 des Workshops wurde die folgende Fragestellung diskutiert: „Wie kann man ein Meeting so gestalten, dass es möglichst unproduktiv ist?“ Als Ergebnis listete die Gruppe eine Vielzahl an Aspekten auf, beispielsweise „Meeting hat keine Agenda“, „Teilnehmer sind unpünktlich“ oder „Thema benötigt kein Meeting, da es bilateral geklärt werden kann“.
In der Phase 2 konkretisierte die Gruppe die Punkte aus der Phase 1, die für das Team relevant waren. Als Ergebnis erhielten wir sehr ehrliche, zum Teil erstaunliche Antworten – beispielsweise, dass sich die Gruppe verpflichtet fühle, die ursprünglich geplante Zeit für ein Meeting auszuschöpfen, selbst wenn das nicht notwendig wäre.
In Phase 3 wurden Maßnahmen diskutiert, die am besten geeignet wären, die in Phase 2 identifizierten kontraproduktiven Faktoren zu beenden. Heraus kamen konkrete Maßnahmen für die einzelnen Punkte, zum Beispiel „Jedes Meeting soll eine Agenda haben“ oder „Der Einladende soll sich im Vorfeld Gedanken machen, ob für das Thema ein Meeting erforderlich ist“. In dieser Phase wurden insbesondere auch die Konsequenzen eines Nichtumsetzens der vereinbarten Maßnahmen besprochen, zum Beispiel, ob die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Meeting absagen dürfen, wenn es keine Agenda gibt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten die Meetings vorzeitig verlassen, wenn sie keinen Mehrwert in der Diskussion sahen. Meetings sollten pünktlich anfangen und enden. Schließlich einigten wir uns noch darauf, nach einem Monat die Ergebnisse der Maßnahmen zu überprüfen.
Das Resultat: eine deutliche Verbesserung
Für die komplette Problemlösung waren mehrere Workshops erforderlich. Allerdings lieferte dieser initiale Workshop schnell und unkompliziert viele greifbare Ideen und bildete eine stabile Basis für die nächsten Schritte. Nachdem die Merkmale von kontraproduktiven Meetings identifiziert waren, wurden in einem Folgetermin Regelmeetings auf diese überprüft. Betroffen waren zwölf Regelmeetings, auf die diese Kriterien zutrafen. Acht davon wurden direkt als Streichkandidaten eingestuft, zwei sollten „unter Beobachtung“ gestellt werden und die verbleibenden zwei stellten sich als unbedingt notwendig heraus. Nach einem Monat Beobachtung wurde keines der acht gestrichenen Meetings vermisst. Vielmehr wurde durch den Wegfall der Besprechungen die Produktivität im Team gesteigert und die Frustration deutlich verringert. Zudem fanden sich andere, effizientere Wege zum Austausch.
Die Methode "TRIZ"
Die Methode unterteilt sich in drei Phasen:
- Phase 1: Die Gruppe erstellt eine Liste mit allen Dingen, die man tun kann, um garantiert das schlechteste Ergebnis in Bezug auf das eigentliche Ziel zu erreichen.
- Phase 2: Die Gruppe prüft diese Liste und fragt sich: „Welche Punkte auf dieser Liste machen wir aktuell in irgendeiner Form?“ Dieser Schritt erfordert Ehrlichkeit und Selbstreflexion.
- Phase 3: Die Gruppe geht die Punkte der Liste aus der Phase 2 durch und fragt sich: „Wie können wir diese kontraproduktiven Aktivitäten stoppen?“
In den einzelnen Phasen nutzt die Gruppe die Liberating Structure „1-2-4-All“. Dabei denkt zunächst jede/-r alleine über Antworten zur Fragestellung nach (1 Minute). Im Anschluss werden die Ergebnisse zunächst in Zweier- und danach in Vierergruppen kurz zusammengetragen und konsolidiert (2 beziehungsweise 4 Minuten). Zum Schluss werden in der ganzen Gruppe die wichtigsten Ergebnisse jeder Vierergruppe gesammelt und ebenfalls konsolidiert. Das Ergebnis der Gruppe soll auf die Top 2 beschränkt werden.
Tipp der Autoren: Originalmethode 1-2-4-All beschleunigen
Wir haben 1-2-4-All stark beschleunigt: Sowohl einzeln als auch in den Gruppen stand jeweils nur 1 Minute zur Verfügung. Dadurch sollten „Bauchentscheidungen“ der Teilnehmerinnen und Teilnehmer forciert und eine Fokussierung auf die absolut wichtigsten Punkte erreicht werden. Dank der kurzen Dauer des Workshops (30 Minuten) gab es außerdem kaum Widerstand bei den durch die Vorgeschichte frustrierten Teammitgliedern. Die Moderierenden sollten darauf vorbereitet sein, dass sich einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer über Zeitmangel beschweren werden.
Was war mit TRIZ anders?
Bleibt die Frage, warum diese scheinbar einfachen Maßnahmen nicht schon vorher gefunden wurden? Die Antwort ist trivial: Eine lange Diskussion ohne Struktur führt dazu, dass eine Gruppe sofort anfängt, über Lösungen zu sprechen. Bei einer heterogenen Gruppe sind die Lösungsvorschläge meist sehr unterschiedlich. Dies führt zu weiteren Diskussionen, eine Einigung auf ein Ergebnis ist selten möglich. Irgendwann bricht die Gruppe resigniert ohne Ergebnis ab.
Bei TRIZ hingegen ist der Ansatz, eine gut strukturierte, zeitsparende Methode zu verwenden, die keine komplette Lösung verspricht. Durch den initialen Perspektivenwechsel wurden die Teilnehmenden der Gruppe in die Lage versetzt, das Problem aus einer neuen Perspektive zu betrachten. In dieser Phase beginnt man immer mit dem allgemeinen Blickwinkel auf eine Problemstellung – deshalb ist die Formulierung „man“ in Phase 1 wichtig. Durch die Invertierung der eigentlichen Fragestellung erhält die Aktivität ein spielerisches Element – das hilft, viele neue Aspekte zu identifizieren.
Nachdem die „typischen“ Probleme benannt waren, nahmen die Gruppenmitglieder einen Abgleich mit der eigenen Realität vor und stellten fest, dass sie einige der Probleme teilten. Als diese Einsicht gewonnen war, konnte mit der Arbeit an der tatsächlichen Lösung begonnen werden. Diese wurde in den nächsten Phasen konsequent weiterentwickelt.
Beispiel 2: Optimierung des Build Prozesses mit "15% Solutions"
Die Situation
In einem Softwareentwicklungs-Großprojekt war das Problem, dass der Build des Systems etwa eine Stunde dauerte. Da dieses Problem bereits seit vielen Jahren bestand, hatten sich die meisten Entwicklerinnen und Entwickler damit abgefunden. In der Regel stießen sie den Build-Prozess an und arbeiteten in der Zwischenzeit an etwas anderem. Die Konsequenz war, dass die Entwicklerinnen und Entwickler häufig das Ergebnis des Builds am Ende nicht prüften. War ein Build fehlerhaft, wurden dadurch andere behindert. In der (projektweiten) Release-Retrospektive stufte man das Thema schnell als oberste Priorität ein. Dennoch gab es nur wenige Kolleginnen und Kollegen, die an einem Workshop zur Verbesserung des Build-Prozesses mitarbeiten wollten. In Gesprächen zeigte sich, dass sich die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Situation gegenüber machtlos wähnten.
Die Lösung
Diese Einschätzung veranlasste uns dazu, bei der Durchführung des Workshops die Methode „15% Solutions“ zu verwenden. Diese Methode versucht keine vollständige Lösung eines Problems zu erarbeiten, sondern sich der Lösung in ersten kleineren Schritten anzunähern.
Der Ablauf des Workshops
In diesem Fall wurde der Workshop online durchgeführt. Als Werkzeuge wurden ein Conceptboard als Arbeitsbereich und Skype zur Kommunikation genutzt. Separate Besprechungsräume müssen bei Skype, im Gegensatz zu anderen Online-Meeting- Werkzeugen, durch separate Sessions abgebildet werden. In Phase 1 des Workshops wurde die folgende Problemstellung diskutiert: „Der Build-Prozess der Software soll optimiert und verkürzt werden. Was sind deine 15% dazu?“ Initial befanden sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einer gemeinsamen Skype-Session (Plenum). In Phase 1 dachte jede Person für sich darüber nach, mit welchen Maßnahmen oder Ideen sie zur Lösung des Problems beitragen könnte. Diese Ideen platzierte sie in Form von Sticky Notes auf ihrem individuellen Bereich des Conceptboards.
In Phase 2 wurden dann die Ideen aus Phase 1 in kleinen Gruppen besprochen. Die Gruppen bestanden dabei aus jeweils drei Personen. Jede Gruppe diskutierte in einer eigenen Skype Session, die Gruppenzuweisung erfolgte durch den Moderator (in Zoom oder Teams ist dies auch zufällig möglich). Auf dem Conceptboard gab es für jede Gruppe einen Arbeitsbereich, der vor dem Workshop angelegt wurde. Für die Diskussion hatte jede Gruppe 30 Minuten Zeit (zehn Minuten je Person). Während der Diskussion zogen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Sticky Notes aus den individuellen Arbeitsbereichen in den Gruppenbereich. Dort wurden sie ergänzt, konkretisiert und überarbeitet, soweit sich dies aus der Diskussion ergab.
Phase 3 fand wieder im Plenum statt. Hier wurden die Ergebnisse aus der Gruppenarbeit allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern präsentiert (zwei Minuten je Gruppe für die Präsentation). Anschließend erfolgte eine Priorisierung der Ideen mittels „Punkteklebens“ („Dot Voting“) auf dem Conceptboard (eine Minute). Anschließend wurden in einem Folge-Workshop die konkreten Aktionen, Termine und Zuständigkeiten definiert.
Was war mit „15% Solutions“ anders?
Zuvor hatte man an einer vollständigen Lösung des Problems gearbeitet und war daran gescheitert – das Problem war zu komplex, es erforderte mehrere voneinander abhängige Teillösungen. Mit „15% Solutions“ wurde eine andere, schrittweise Herangehensweise an die Lösung des Problems gewählt, die zu mehr Erfolg führte. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren am Ende des Workshops über ihre Ergebnisse erstaunt: Alle konnten ihren Beitrag zur Lösung des Problems leisten. In Folgeworkshops wurde weiter an der Lösung der komplexen Problematik gearbeitet. Schon beim zweiten Workshop hatten wir doppelt so viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer, denn das Problem erschien gar nicht mehr so unlösbar.
Das Resultat: deutliche Verbesserungen mit positiven Nebeneffekten
Die Ergebnisse aus dem 15%-Solutions-Workshop waren vielfältig:
- Entwicklerinnen und Entwickler tauschten sich über Tipps und Tricks bezüglich des Build-Prozesses aus. Sie hatten viele gute Ideen, wie sie die längeren Build-Zeiten überbrücken könnten. Insbesondere der Austausch zwischen erfahreneren und neueren Entwicklerinnen und Entwicklern war hier sehr einträglich. Als positiver Nebeneffekt wurde dadurch die Kommunikation zwischen den Teams gestärkt.
- Es wurden auch ungewöhnliche Lösungsbeiträge identifiziert: So hatte der Virenscanner den Build-Prozess verlangsamt. Ein Plan wurde erarbeitet, um ein Abschalten des Scanners während der Build-Prozesse zu ermöglichen.
- Beteiligte Kolleginnen und Kollegen aus dem Architekturteam erstellten schnell eine Roadmap, wie das Problem architektonisch gelöst werden kann. Als positiver Nebeneffekt daraus ergaben sich viele Optimierungen der Architektur.
Nach wenigen Wochen hatten alle Projektbeteiligten von dem Workshop und seinen Ergebnissen gehört. Obwohl Liberating Structures viele Methoden zu bieten hat, wollte man noch lange „15% Solutions“ bei allen Problemstellungen anwenden.
Die Methode "15% Solutions"
Die Methode ist gut geeignet, um komplexere Probleme mit vielen Beteiligten zu lösen. Dazu wird nicht das Gesamtproblem adressiert, sondern sich der Lösung in ersten kleinen Schritten genähert. Die Umsetzung dieser Schritte soll dabei im eigenen Handlungsspielraum liegen. Die Fragestellung ist fast immer gleich: „Was sind deine 15%?“ Das heißt: „Was ist dein Beitrag zur Problemlösung?“ Selbstverständlich sind die 15% symbolisch zu sehen – es geht darum, durch die kleine Prozentzahl eventuell vorhandene Blockaden und Ängste zu lösen und die eigene Machtlosigkeit zu überwinden. Es sollen erste kleine Schritte gemacht werden.
- Phase 1: Jede teilnehmende Person schreibt für sich eine Liste seiner, ihrer „15% Solutions“.
- Phase 2: Jede teilnehmende Person stellt ihre Ideen einer kleinen Gruppe vor (zwei bis vier Mitglieder). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stellen Fragen und/oder geben Ratschläge zur Verbesserung der Idee. Insbesondere wird reflektiert, ob die Umsetzung in der eigenen Macht liegt.
- Phase 3: Die Ergebnisse aller Gruppen werden vorgestellt und gemeinsam priorisiert.
Einsatzbereich von Liberating Structures
Liberating Structures können in sehr vielen Situationen sinnvoll eingesetzt werden.
Einfache Erlernbarkeit
Liberating Structures sind bewusst so gestaltet, dass sie leicht zu erlernen sind. Jede einzelne Methode ist detailliert beschrieben, sodass im Prinzip alle „einfach loslegen“ und die Bausteine nutzen können, die für sie hilfreich sind. Traut man sich das nicht zu, so gibt es regelmäßig „Immersion Workshops“ oder Schulungen verschiedener Anbieter, in denen man eine Vielzahl von Bausteinen in kurzer Zeit kennenlernen kann. Daneben existieren weltweit auch „Liberating Structures Usergroups“, die allen einen sicheren Raum zum Üben einzelner Methoden bieten.
Beliebige Gruppengrößen
Liberating Structures sind flexibel skalierbar – in der Theorie sind sie sowohl für zwei als auch für 100 Personen geeignet. Feste Grenzen zur Teilnahmezahl gibt es nicht. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass dies nicht vollständig mit unseren Erfahrungen aus der Praxis übereinstimmt. Einige der Methoden wirken bei Einsatz in sehr kleinen Gruppen überdimensioniert, sodass man sie nur bei einem sehr aufgeschlossenen Personenkreis nutzen sollte. Sehr große Gruppen hingegen stellen kein Hindernis dar – allerdings muss man entsprechend auf die Zahl der Personen vorbereitet sein. Dies ist besonders bei Online- Durchführungen zu beachten. Bei großen Gruppen müssen eventuell Methoden kombiniert werden, um eine Skalierung einzelner Methoden effizient zu unterstützen. Häufig wird dafür „1-2-4-All“ eingesetzt – darauf wird in der Regel in der Beschreibung der jeweiligen Methode hingewiesen.
Kombinierbarkeit von Methoden
Wie bereits erwähnt handelt es sich bei Liberating Structures um einen Methodenbaukasten. Die verschiedenen Methoden können kombiniert werden, um so einen Workshop zu gestalten und ein Thema Schritt für Schritt zu bearbeiten. Dieses Kombinieren wird „String Building“ genannt. Dabei bauen die einzelnen Methoden jeweils auf den Ergebnissen der vorausgegangenen Methoden auf. Jede Methode für sich erfüllt einen bestimmten Zweck und trägt so zum Gesamtziel des Workshops bei (siehe Abbildung 2). Beim Design eines Strings (das heißt einer Abfolge von Methoden) muss darauf geachtet werden, dass die Methoden so aufeinanderfolgen, dass sie zum beabsichtigten Workshopziel führen.
Anpassbar und flexibel
Neben der Kombination mehrerer Strukturen zu einem String ist es auch möglich, einzelne Structures anzupassen. Dies geschieht ohnehin zwangsläufig dadurch, dass für die meisten Strukturen die Moderatorin oder der Moderator ein Thema oder eine Fragestellung vorgibt, die mit der Methode beantwortet werden soll.
So gibt es beispielsweise verschiedene Methoden, die in mehreren Iterationen arbeiten. Hier lässt sich die Anzahl der Iterationen oder die Dauer einer einzelnen Iteration anpassen, um eventuell den knappen Zeitrahmen eines Workshops einzuhalten oder die Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch stärker zu motivieren, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. In welchem Maße dies geschieht, bleibt allen selbst überlassen – auch die Meinungen der beiden Autoren dieses Artikels gehen hier zwischen maximalem Tailoring und unverändertem Einsatz auseinander. Es sollte aber unbedingt darauf geachtet werden, wesentliche Elemente und Mechanismen der Methoden beizubehalten. So wird beispielsweise das „Timeboxing“ bei vielen Methoden bewusst eingesetzt, um intuitives Verhalten und Fokussierung zu fördern. Diesen Aspekt würden die Methoden ohne Timeboxing verlieren.
Besonderheiten bei Online-Nutzung
Unumgänglich ist die Anpassung der Methoden, wenn sie online eingesetzt werden. Die Strukturen waren ursprünglich für den Einsatz „Face-to-Face“ konzipiert und setzen stark auf direkte Interaktionen der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Online müssen diese Interaktionen anders gestaltet werden, damit die Methoden weiterhin effizient bleiben.
Werkzeuge
Die Grundlage bilden geeignete Werkzeuge zur Kommunikation und Zusammenarbeit. Hier findet (bedingt durch die Pandemie) aktuell eine sehr positive Entwicklung statt. Insbesondere die Zahl der Werkzeuge für Videokommunikation wächst stetig, und sie bieten einen immer größeren Funktionsumfang an. Für die meisten Strukturen ist es unerlässlich, unterschiedliche virtuelle Arbeitsräume für (Klein-)Gruppen zur Verfügung zu haben. Verschiedene Tools unterstützen dies bereits, und wo es nicht der Fall ist, kann durch Aufsetzen paralleler Video-Sessions „nachgeholfen“ werden. Zusätzlich sind virtuelle Arbeitsbereiche erforderlich, in denen man „wie im echten Leben“ Notizen verfassen und austauschen kann. Auch hier bietet der Markt mittlerweile eine breite Auswahl.
Keep it simple
Bei der Wahl der Werkzeuge sollte man die Grundregel „Keep it simple“ befolgen. Tools sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Workshops nicht zu sehr fordern. Eine Einarbeitung in verschiedene neue Werkzeuge und der häufige Wechsel zwischen unterschiedlichen Tools sind kontraproduktiv und lenkt dadurch nur vom eigentlichen Inhalt des Termins ab. Es ist deshalb besser, auf wenige, dem Publikum vertraute Werkzeuge zu setzen.
Notwendige Anpassungen
Wie eingangs erwähnt ist es im Online-Umfeld manchmal zwangsläufig nötig, die Abläufe von Methoden zu adaptieren. Auch hierbei gilt „Keep it simple“: Die angepassten Methoden sollten möglichst einfach durchgeführt werden können. Dabei ist abzuwägen, ob sich das durch eine bestimmte (Wunsch-) Methode zu erreichende Ziel auch alternativ erreichen lässt. So kann es zum Beispiel ausreichend sein, Feedback aus der Gruppe über Chatnachrichten im Video-Tool einzuholen statt über Sticky Notes in einem anderen Werkzeug.
Abläufe, die Face-to-Face trivial sind, können online eine Herausforderung werden. Ein Beispiel ist dabei die Gruppenbildung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die in vielen Methoden erforderlich ist. Bei 1-2-4-All beispielsweise finden sich offline Personen zuerst paarweise und dann in Vierergruppen zusammen. Online ist ein freier Wechsel zwischen Räumen nicht in allen Tools möglich. Dann muss die moderierende Person je nach Gruppengröße die Zuweisung zufällig oder explizit vornehmen. Explizite Zuweisung von Paaren zu Vierergruppen ist bei großen Gruppen allerdings oft so zweitaufwändig, sodass man hier eventuell mit zufälligen Gruppengearbeitet werden muss.
Virtuelle Nähe ermöglichen
Ein wichtiger Aspekt bei der Online-Durchführung von Liberating Structures ist, Video-Konferenzen, statt reine Audio-Calls durchzuführen. Es ist wichtig, dass sich die Teilnehmenden gegenseitig sehen können. Viele der Strukturen leben davon, dass die Teilnehmenden gegenseitiges Vertrauen aufbauen und ihre Gespräche in einem sicheren Umfeld stattfinden – spätestens dann, wenn sensible Inhalte besprochen werden. Normalerweise wird dies durch physische Nähe (zum Beispiel sich gegenübersitzen) erreicht. Online ist die Distanz zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zumindest annäherungsweise durch den Einsatz von Video und dabei insbesondere – wenn möglich – durch Heranzoomen der Teilnehmenden beziehungsweise den Bildausschnitt zu reduzieren. Um ein sicheres Umfeld zu schaffen, sollten Unterhaltungen nie aufgezeichnet und die Vegas-Regel konsequent angewandt werden.
Vorbereitung ist Trumpf
Während es Face-to-Face häufig möglich ist, Liberating Structures auch spontan durchzuführen, fällt dies online deutlich schwerer. Hier ist mehr Vorbereitung erforderlich – Arbeitsbereiche und andere Hilfsmittel müssen entsprechend aufgesetzt, der Ablauf wohlüberlegt sein. Dabei ist immer die erwartete Gruppengröße zu berücksichtigen, damit Arbeitsmittel vorab korrekt skaliert werden können. Gehören bestimmte Methoden zum „regelmäßigen Repertoire“ einer Gruppe, so kann man sich mit der Nutzung eigener Templates helfen. Dadurch man die ursprüngliche Spontanität zum Einsatz der Methoden zurückerobert werden.
Fazit
Liberating Structures bieten ein breites Spektrum an einfach zu erlernenden und einzusetzenden Methoden für eine moderne, effiziente und kurzweilige Teamkommunikation. Es handelt sich um eine bewährte, auf praktischen Erfahrungen basierende Sammlung, die auch über den Arbeitsalltag hinaus verwendet werden kann. Liberating Structures beziehen alle Teammitglieder aktiv in die Diskussion und Lösungsfindung ein und führen damit zu besseren und nachhaltigeren Arbeitsergebnissen.
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Quellen
https://www.liberatingstructures.com/ (aufgerufen am 25.11.2021).
Lipmanowicz, Henri, Keith McCandless: The Surprising Power of Liberating Structures: Simple Rules to Unleash A Culture of Innovation); Liberating Structures Press 2014.