Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 02-2020
von Dr. Katrin Ehlers
Adrian Lobe: „Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis“. EINE REZENSION
Digitales Leben – Bücher zu diesem Thema füllen einige Regalmeter im gut sortierten, analogen Buchhandel. Ein Zeichen dafür, dass viele Menschen besser verstehen wollen oder Orientierung suchen: Die Explosion des Digitalen bestimmt zunehmend unseren Alltag und unser Zusammenleben. Ja, es definiert die soziale Interaktion insgesamt – und zwar in globalem Maßstab. Daten, das sogenannte Öl des 21. Jahrhunderts, sind der Treib- oder Sprengstoff, der die Entwicklung so schwindelerregend beschleunigt, nicht nur in ökonomischer Hinsicht. Europa ist sich sicher, weder den chinesischen Überwachungsstaat noch die totale Herrschaft amerikanischer Konzerne zu wollen. Diese zwei Pole allein sind Gründe genug, um kurz stopp zu sagen und sich Zeit zu nehmen – beispielsweise für ein gutes Buch. Um mehr darüber zu erfahren, was da vor sich geht und wie das funktioniert – und wie sich womöglich der scheinbare Automatismus unterbrechen und Gestaltungshoheit wiedergewinnen lässt.
Zwar liefert Adrian Lobes im Herbst 2019 erschienenes Buch „Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis“ zu dem „Was tun“ keine Antworten. Umso unnachgiebiger ist es jedoch in der Zustandsbeschreibung und -analyse. Adrian Lobe gehört zu den Mahnern. Er beschreibt in unzähligen Beispielen den Normalfall Überwachung, die alle trifft und alle einschränkt, schuldig oder unschuldig. Schon die zahlreichen Fälle fehlgeleiteter Berechnungen machen das Buch lesenswert. Doch weitergehend wird auf anschauliche Weise deutlich, dass nicht die Fehleranfälligkeit der Datenauswertung und auch nicht der gezielte Machtmissbrauch Kerne des Problems sind, sondern dass bereits die Berechnung als solche Objektivität und Alternativlosigkeit suggeriert. Technokratie als Herrschaftsform bedeutet das Ende von Politik: „Wenn aber das Verhalten von Individuen, Gruppen und der Gesellschaft als ganzer berechenbar wird, wird politische Willensbildung Makulatur. Wo alles determiniert ist, ist nichts veränderbar.“ (S. 212)
„Speichern und Strafen“ ist eine Fortschreibung von „Überwachen und Strafen“, ein erstmalig 1975 erschienenes Buch des französischen Philosophen Michel Foucault, das sich mit der Entwicklung von Strafsystemen in Europa im frühen 18. Jahrhundert beschäftigt und damit einen wesentlichen Baustein in der Entwicklung von Foucaults Herrschaftstheorie darstellt. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Idee des Gefängnisses als Panoptikum, in dem der Wächter von der Mitte aus Einblick in sämtliche geöffneten Zellen hat: In jedem Moment möglicherweise Objekt der Beobachtung zu sein, reicht aus, um die Gefangenen zu disziplinieren. Vom Internet oder gar vom Internet der Dinge, von der ganzen Datensammelwut der Konzerne wusste Foucault natürlich noch nichts.
„Das Smartphone zählt unsere Schritte, die Smartwatch misst unsere Herzfrequenz, und das Smart Home detektiert Zigarettenrauch und Schimpfwörter. Endlich gibt es all diese klugen kleinen Helfer, die uns liebevoll behüten und umsorgen, unser Leben erleichtern. Falsch! Adrian Lobe zeigt, wie uns die Digitaltechnik geradewegs in ein Datengefängnis führt, das wir selbst gebaut haben und so bald nicht wieder verlassen werden.“ |
Dennoch ist Foucaults Werk hochaktuell, so Lobe, „weil er darin Machttechniken beschreibt, die sich als Erklärungsfilter auch für die Analyse programmierter Gesellschaften dienstbar machen lassen.“ (S. 17) Das Speichern von Daten ist, wenn man dem Ansatz folgt, an sich eine nicht mehr spürbare Überwachung und somit die Vollendung der von Foucault kritisch beschriebenen Macht. Das ist der theoretische Ausgangspunkt und der Anspruch von Adrian Lobes Buch. Entsprechend beschreibt er die Datenherrschaft mit dem Vokabular aus Strafverfolgung und -vollzug: „Jedes Speichern ist Arrest […], bei [dem] Individuen für eine juristische Sekunde festgehalten werden und ihre Daten in Untersuchungshaft landen. Die Daten werden abgegriffen, untersucht und eingehend befragt. Diese permanenten Festnahmen werden nur deshalb nicht als übergriffig empfunden, weil hier nicht der physische Körper abgetastet, sondern allein der Datenkörper untersucht wird. Diese Mikro-Festnahmen, wie ich sie nennen möchte, werden sich […] zu einer panoptischen Haft verdichten.“ (S. 27)
Der theoretische Hintergrund gibt Lobes Ausführungen eine gewisse Eindringlichkeit und Schärfe. Die Verflechtung realer Geschehnisse und gelebter Praktiken aus einer „Gesellschaft im Datengefängnis“ mit der Reflexion von soziologischen und philosophischen Befunden und Texten (nicht nur Foucaults) ist keine leichte Kost und schlägt die Leser dennoch in den Bann. In „1984“, dem berühmten dystopischen Roman (und dem Todesjahr Foucaults), der auf den Erfahrungen mit Faschismus und Stalinismus beruht, spielt die Gedankenpolizei eine zentrale Rolle. In den 10er-Jahren dieses Jahrtausends ist die Gedankenpolizei Realität: Ein Facebook-Profil hat den Charakter einer Stasi-Akte (S. 144), Suchmaschinenprotokolle werden von der Polizei als Beweismaterial herangezogen. Letzteres führte 2012 zur Verhaftung und Verurteilung des „Canibal Cop“ in New York. Der Polizist hatte sich mithilfe von Google über Tötungspraktiken informiert und sich in Chats über seine vermeintlichen Vorhaben ausgetauscht. Umgesetzt hat er seine Pläne nicht. 2014 wurde der Schuldspruch aus Mangel an Beweisen aufgehoben, da hatte der Mann 21 Monate in Haft gesessen. 2015 schließlich gab es einen weiteren Erfolg vor einem Berufungsgericht: Es sei nicht rechtens, jemanden wegen seiner Gedanken zu bestrafen, Fantasien, auch perverse, zu kriminalisieren, so die Urteilsbegründung. „Das Urteil atmete einen aufklärerischen Geist“, kommentiert Lobe (S. 66). Der Beschuldigte war rehabilitiert, Job, Frau und Kind hatte er allerdings auf Dauer verloren. Im Buch folgt die Beschreibung eines weiteren ähnlichen, wenn auch weniger spektakulären Falles aus Deutschland.
Nach der Lektüre von „Speichern und Strafen“ wird kaum jemand noch beschwichtigen, dass, wer nichts Böses getan hat, seine Daten bedenkenlos abgeben könne.
Abschließend noch ein Hinweis an alle Leserinnen und Leser, entnommen Edward Snowdens „Permanent Record“: Wenn Sie das Buch online kaufen oder mit Karte bezahlen, wird die NSA das wissen. Wenn Sie es auf einem elektronischen Gerät lesen, werden die NSA-Server verzeichnen, an welchen Stellen Sie vor- oder zurückblättern oder was sie während der Lektüre im Netz nachgesehen haben.1 •
1 Vgl. Edward Snowden, Permanent Record, Macmillan London 2019, S. 325.