Interview: „Digitalisierung ist letztlich ein Kostensenkungsprogramm, aber dadurch entstehen auch völlig neue Tätigkeiten für Mitarbeiter“

Martin Brandes (l.) ist Abteilungsleiter im Geschäftsbereich Insurance, SAP Consulting bei msg systems. Jürgen Wessalowski ist Lead Business Consultant bei msg systems.

Versicherer müssen ihre Mitarbeiter erfolgreich auf die digitale Transformation vorbereiten. Wie das gelingt und wie ein Change-Management-Prozess idealerweise ablaufen soll, erklären Martin Brandes und Jürgen Wessalowski von msg systems im Interview.

VWheute: Als Projekt- und Programm-Manager haben Sie Einblick in den Digitalisierungsprozess der Versicherer. Wie weit ist die Versicherungsbranche in diesem Bereich? Wo sehen Sie Fortschritte und wo noch Nachholbedarf?

Martin Brandes: Für mich besteht die digitale Transformation aus mehreren Facetten: aus der Digitalisierung der internen Prozesse und der Transformation der externen Prozesse. Bei der ersten Disziplin sind die Versicherer schon recht weit gekommen – ich treffe heute kaum noch auf Sachbearbeiter, die nicht papierlos arbeiten und in deren Gesellschaften nicht bereits vielfältige Programme laufen, bzw. gelaufen sind, in denen die internen Prozesse effizienter und – technisch unterstützt – optimierter gestaltet werden. Bei der zweiten Facette, den externen Prozessen erkenne ich auch bereits solide Ansätze, um die Kommunikation mit Dienstleistern und Partnern digital zu gestalten. Die Herausforderung wird es sein, diese beiden Facetten miteinander zu verbinden, um hier möglichst große Synergien durch Automatismen und Prozessoptimierungen zu erreichen.

VWheute: Empfinden Sie die Pandemie als Digitalisierungsbeschleuniger für die Versicherungsbranche?

Martin Brandes: Zuallererst hat die Pandemie und das damit einhergehende, flächendeckende Arbeiten im Home-Office gezeigt, wie weit die Gesellschaften sind bei der Digitalisierung der internen Prozesse. Und das hat ja überall recht gut geklappt – die Prozesse funktionierten auch bei der Belegschaft daheim, die Hardware war da, bzw. zügig organisiert und das digitale Mindset der Mitarbeitenden war auch vorhanden.

Daneben empfinde ich die aktuelle Phase fast schon wie ein Katalysator für den Blickwinkel mancher Entscheidungsträger auf die Digitalisierung der Versicherungsbranche. Durch die Notwendigkeit, sich mit digitaler Kommunikation und Kollaboration auseinanderzusetzen zu müssen, geben auch die letzten ‚Digital-Muffel‘ ihre früher vorherrschenden Vorbehalte auf und lernen, welche Vorteile die Digitalisierung bringt. Und ein flächendeckendes Mindset auf allen Ebenen ist immer ein guter Nährboden für erfolgversprechende Weichenstellungen in der fachlichen und in der technischen Architektur.

VWheute: Wo glauben Sie, wird die Digitalisierung in der Versicherungswirtschaft hinführen?

Martin Brandes: Ich denke, die Entwicklung läuft immer mehr in Richtung Öko-Systeme – Plattformen, in denen unterschiedliche Player ihre Dienste anbieten und kombinieren. Die Frage, die sich jede Gesellschaft stellen muss: stelle ich ein Öko-System zur Verfügung und bin dessen Herzstück, oder nehme ich mit meinen Produkten und Services an anderen Öko-Systemen teil?

VWheute: Warum ist die Digitalisierung für die Versicherungswirtschaft so wichtig?

Martin Brandes: Zuallererst sollten die Erwartungen der Kunden bezüglich Produktflexibilität, Tempo sowie nahtlosem und kanalübergreifendem Service erfüllt werden. Eine erlebbare Customer Experience hat das Potenzial, mehr und mehr zum Differenzierungsmerkmal gegenüber dem Wettbewerb zu werden und beugt so auch der Abwanderung der Kunden zur Konkurrenz vor. Hierfür ist ein vollständig digitalisierter Versicherungsbetrieb und -vertrieb mit durchgängigen (End-to-End) und hochgradig automatisierten Prozessen notwendig.

VWheute: Inwiefern haben IT-Anpassungen Auswirkungen auf die Arbeitsabläufe und bestehende Prozesse in einem Versicherungsunternehmen?

Jürgen Wessalowski: Durch Anpassungen, Aktualisierungen und Erneuerungen in den IT-Landschaften, die aufgrund von Digitalisierungs- und Automatisierungsprojekten notwendig werden, ist die Neugestaltung von Prozessen ein zentrales Thema. Wo bisher die Mitarbeitenden in einem Versicherungsunternehmen zum Beispiel eine elektronische Versicherungsbestätigungskarte zur Zulassung eines Kraftfahrzeuges noch manuell bearbeitet haben, wird diese in vielen Unternehmen nahezu dunkel verarbeitet. D. h. dieser Prozess ist weitestgehend automatisiert, sodass ein Eingriff und somit eine manuelle Bearbeitung obsolet wurde. Ähnliches können wir z. B. in der Bearbeitung von Anträgen zur Kraftfahrtversicherung feststellen. In vielen Unternehmen läuft dieser Prozess nahezu vollständig automatisiert.

Das Zusammenspiel des Datenaustausches und der damit verbundenen automatisierten Verarbeitung zwischen den Zulassungsbehörden, bzw. dem GDV (Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft) und den Versicherungsunternehmen hat die manuelle Bearbeitung derartiger Geschäftsprozesse ersetzt. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich die Arbeitsabläufe verändert haben bzw. teilweise auch komplett weggefallen sind. Die größten Veränderungen in den letzten Jahren gab es im Bereich der Kraftfahrtversicherung. In keiner anderen Sparte war der Wandel so stark ausgeprägt und dass obwohl oder vielleicht gerade, weil es hier erhebliche Schnittstellen zu externen Stellen gibt.  Andere Sparten wie z. B. die Sach- oder Haftpflichtversicherungen ziehen allmählich nach. Wenngleich die Automatisierung von Prozessen in diesen Sparten deutlich langsamer voranschreitet. Auch hier werden in der Zukunft Prozesse wegfallen oder ersetzt.

VWheute: Um den vielen Veränderungen in den Unternehmen zu begegnen und zielorientiert zu lösen, hat das Change-Management bereits in einigen Unternehmen Einzug gehalten. Leider verbinden das die meisten Mitarbeiter mit Kostensenkungen und Entlassungen – weil es bislang auch so bei vielen Unternehmen der Fall war. Kann man gegen diese negative Wahrnehmung etwas unternehmen?

Jürgen Wessalowski: In der Tat waren in der Vergangenheit Kostensenkungsprogramme auch immer mit der Freisetzung von Mitarbeitenden verbunden. Ob das im Sinne des damit verbundenen Know-how-Abflusses immer gewinnbringend war, darf bezweifelt werden. Insofern liegt es auf der Hand, dass die Mitarbeitenden mit Kostensenkungen auch Entlassungen verbinden. Kostensenkung in der Versicherungswirtschaft ist aber allgegenwärtig. Auch Digitalisierung und Automatisierung sind ja letztlich Kostensenkungsprogramme.  Allerdings können wir beobachten, dass dadurch völlig neue Aufgaben und Tätigkeiten entstehen. Die Prozesse der künstlichen Intelligenz müssen zunächst idealerweise im Zusammenspiel mit den Kunden und dem Außendienst kreiert und entwickelt, später dann implementiert und controlled werden.

Ein nicht zu unterschätzendes Thema ist die Information, Schulung und Entwicklung der Mitarbeitenden. Auch das sind Aufgaben und Tätigkeiten, die in der Zukunft eine große Rolle spielen werden. Das allein zeigt schon, dass Mitarbeiterfreisetzungen, wie sie vielleicht in der Vergangenheit in der Versicherungswirtschaft vorgekommen sind, weniger ein Thema sein wird. Ich glaube mit Recht sagen zu können, dass sich ein Mitarbeitender nicht die Frage stellen muss, ob er weiterhin im Versicherungsunternehmen arbeiten wird. Die entscheidende Frage ist vielmehr, in welchem Bereich er zukünftig eingesetzt wird.  Und genau hier setzt auch das Change-Management auf.  Es soll den Betroffenen helfen, die notwendigen persönlichen Veränderungen erfolgreich zu durchlaufen.

VWheute: Wie sollte ein Change-Management-Prozess am besten ablaufen damit auch alle Mitarbeiter mitziehen? Und was sollte auf jeden Fall vermieden werden?

Jürgen Wessalowski: Gründe für Veränderungen sind wie bereits erwähnt sehr vielfältig. Zu berücksichtigen ist, dass Veränderungen im Arbeitsumfeld immer auch eine emotionale Betroffenheit der jeweiligen Mitarbeitenden auslösen. Es darf nicht unterschätzt werden, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Gefühlswelt und dem Leistungsvermögen der Mitarbeitenden in einer Organisation gibt. Insofern ist es für den Erfolg einer notwendigen Veränderung unbedingt erforderlich, dass die Persönlichkeitsmerkmale der Mitarbeitenden erkannt und verstanden werden, um einen stärkenorientierten Einsatz vornehmen zu können. Die Betroffenen Mitarbeitenden müssen erfolgreich auf diese Veränderungen vorbereitet werden. Dabei ist von Beginn an eine zielgerichtete und ehrliche Kommunikation, die auch auf die emotionalen Fragestellungen der Betroffenen eingeht, ein wesentlicher Erfolgsfaktor.

Die Notwendigkeit einer Änderung muss klar und transparent dar- und vorgestellt werden, damit sich die Betroffenen ein gutes Bild über die zukünftige Ausrichtung machen können. Denn wenn die Mitarbeitenden ein klares Ziel Bild haben, fällt es ihnen leichter, aktiv und gewinnbringend an der Änderung mitzuwirken. Allerdings gilt es auch am Ball zu bleiben. D.h. die Mitarbeitenden müssen während des gesamten Prozesses wahr- und ernstgenommen werden, wobei insbesondere die Wertschätzung eines jeden Einzelnen eine zentrale Rolle spielt. Und letztlich gilt es, wie bereits erwähnt, die Aufgaben und Tätigkeiten an den Stärken der Mitarbeitenden orientiert, zu verteilen. Denn gelingen wird mir das, was ich gut kann.

VWheute: Warum sollte ein Change-Manager in einer Organisation bzw. in einem Unternehmen eine feste Größe sein? Welche zentrale Aufgabe hat dabei das Top-Management?

Jürgen Wessalowski: Da der Change allgegenwärtig und nicht mehr wegzudenken ist, benötigt es in den Unternehmen einen „Change-Manager“ der den notwendigen Blick für Change-Prozesse mitbringt. D. h. es ist eine Schlüsselfunktion, die mit notwendigem Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen die notwendigen Veränderungen zielführend vorantreibt. Er muss bei den Betroffenen ein Gefühl der Dringlichkeit schaffen sowie alle Ebenen in den Change einbinden. Das Top-Management hat dabei die zentrale Aufgabe eine notwendige Veränderung, die sich aus strategischen Zielsetzungen ergibt „nach unten“ zu kommunizieren und vor allem der notwendigen Veränderung positiv gegenüberzustehen. Denn das Top-Management steht im Fokus der Mitarbeitenden. D. h. hier wird genau beobachtet, wie die oberste Führungsebene mit den jeweiligen Themen der Veränderungen umgeht. Im Weiteren hat das Top-Management die nachfolgenden Hierarchien mitzunehmen. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es auch Führungskräfte in einem Unternehmen gibt, die nicht sofort und automatisch von Veränderungen begeistert sind. Sie spielen allerdings für das Gelingen eines Changes eine zentrale Rolle, weil sie in ihrer Führungsfunktion das Bindeglied zu den Mitarbeitenden sind. Und letztlich, auch wenn Führungskräfte einen längeren Atem haben sollten, sind es auch Mitarbeitende eines Unternehmens.

Interview: VW-Redaktion

2 Kommentare

  • Dagmar Helfer

    Mit den Ausführungen in diesem Interview gehe auch ich einig und kann das nur unterschreiben. Der Erfolg eines Change-Managements und die Identifizierung der Mitarbeiter in zum Teil ganz neuen Aufgaben stützt sich sehr darauf, wie die Kommunikation und das „Mitnehmen“ der Mitarbeiter gelingt. Aus meiner Sicht wird immer noch zu wenig dem Einfluss von Emotionen Rechnung getragen. Es erscheint zu unpopulär und von wenig Stärke eines Menschen geprägt, wenn Emotionen angesprochen werden.

  • Sich aus dem gewohnten Tätigkeitsfeld heraus zu bewegen war und ist für alle Menschen mit einer gewissen Herausforderung verbunden. Bei all den Optionen und Perspektiven, die durch die Digitalisierung angeboten werden, wird der noch spannendere Aspekt sein, wie wir Menschen solche Möglichkeiten annehmen und mit der einhergehenden Veränderung unserer (Arbeits-)Welt umgehen.

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